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„Durch die Wirkungsmessung können wir besser werden.“

Unser Interview

Lieber Farid Bidardel, lassen Sie uns mit einer hypothetischen Frage beginnen: Hätte es in Ihrer Schulzeit bereits START-Stipendien in Nordrhein-Westfalen gegeben, hätten Sie sich dann beworben?

Ein ganz klares Ja. Vor Kurzem war ich bei der Aufnahmefeier der neuen Stipendiatinnen und Stipendiaten in Nordrhein-Westfalen. Und da kam mir genau dieser Gedanke: Wie schön wäre es gewesen, wenn es START schon 2002 – da war ich im richtigen Alter – in NRW gegeben hätte!

 

Heute sind Sie Geschäftsführer der START-Stiftung. Warum wären Sie als Jugendlicher gerne Teil des Programms gewesen?

Um mit Menschen in Kontakt zu kommen, die eine ähnliche Biografie und ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie ich. Um gemeinsam mit ihnen zu lernen, zu Macherinnen und Machern zu werden und Dinge auf die Beine zu stellen. Die START-Community und das Gefühl, Teil einer großen, deutschlandweiten Familie zu sein, ist für Jugendliche ein enormer Wert – das sehe ich bei den heutigen Stipendiatinnen und Stipendiaten. Egal, wo sie hinfahren, sie haben dort Freundinnen und Freunde sowie Mitstreiterinnen und Mitstreiter, mit denen sie etwas bewegen können. Meiner Entwicklung und Identitätsfindung wäre das wahrscheinlich zuträglich gewesen.

Sie haben Organisationspsychologie und Erziehungswissenschaften studiert, zwei Tech-Start-ups gegründet, aber auch drei Jahre bei Social Impact in Frankfurt gearbeitet, einer Agentur für soziale Innovation. Sie sind auch ohne Stipendium ein Macher geworden – was hat Sie geprägt?

Zum einen meine Familie. Meine Mutter gehört zu den Menschen, die Sachen einfach anpacken. Missstände sind für sie ein Impuls, etwas Neues dagegenzuhalten. Dann sind da mein Glaube und die Überzeugung: Wenn du etwas tust, dann nicht nur für dich selbst. Mach es so, dass im besten Fall auch andere einen Nutzen davon haben. Stark geprägt hat mich auch, dass ich in meinem Umfeld immer wieder auf Menschen getroffen bin, die den Mut hatten, etwas auszuprobieren, und die Einstellung, dass es völlig okay ist, dabei auch mal zu scheitern.

Was reizt Sie am meisten an der Aufgabe, die START-Stiftung zu leiten?

Ganz klar die Jugendlichen. Jede Minute, in der ich die Chance habe, direkt mit ihnen in Kontakt zu treten, ist für mich ein Highlight. Das sind so aufgeweckte junge Menschen! Ich finde es sehr beeindruckend, was in ihnen steckt – und was dabei herauskommt, wenn man sie machen lässt. Mich reizt es aber auch, die Stiftung selbst weiterzuentwickeln. Wir sind inzwischen 20 Jahre alt, haben über 3.500 Absolventinnen und Absolventen, darauf kann man stolz sein.

 

Hier lesen Sie die Geschichte der START-Stiftung in Meilensteinen

 

Dennoch arbeiten wir daran, unterstützt durch neue digitale Möglichkeiten, noch mehr Menschen zu erreichen.

Bei Ihren eigenen Gründungen lag der Schwerpunkt auf Themen wie Programmieren und Künstliche Intelligenz. Ist Technologie der entscheidende Treiber für gesellschaftlichen Wandel?

Zu hundert Prozent, ja. Lassen Sie mich Ihnen ein Beispiel geben: Der Pädagoge Benjamin Bloom hat bereits in den 80er Jahren bewiesen, dass ein Eins-zu-eins-Tutor zu signifikant höheren Lernerfolgen bei Jugendlichen führt. Natürlich wusste er, dass dafür ganz schlicht die Ressourcen fehlen. Heute kann Technologie in diese Lücke springen. Eine Künstliche Intelligenz, die mit Infos der Stipendiatinnen und Stipendiaten gefüttert wird und sie dann individuell begleitet, stelle ich mir als durchaus effektiv vor. Wichtig ist, die Grenzen ihres Einsatzes zu kennen: Technologie kann keine Community und keinen persönlichen Austausch ersetzen.

Warum ist die Community ein so essenzieller Teil des START-Programms?

Ich habe mich auch schon gefragt, warum sich unsere Stipendiatinnen und Stipendiaten oft bereits nach dem Kick-off-Wochenende wie eine Familie fühlen. Ich glaube, es hängt damit zusammen, dass sie alle vor ähnlichen Herausforderungen stehen. Oft sind sie in vielen Bereichen, in der Schule, im Sportverein, „die Anderen“. Egal, ob es die Sprache ist, die sie unterscheidet, ob sie vielleicht ein Kopftuch tragen, andere Dinge essen – sie tragen automatisch das Stigma des Andersseins. Bei START sind sie alle anders, deshalb verstehen sie sich sofort als Teil unserer Community. Menschen aus über 70 Nationen sind Teil unseres Programms. Unsere Stipendiatinnen und Stipendiaten unterscheiden sich in ihrer Herkunft, in ihrer Sprache, im Alter, in ihren Fähigkeiten und Ansichten – und trotzdem muss sich hier keiner erklären.

Worin unterscheidet sich Ihr 15-Jähriges Ich am meisten von den heutigen Jugendlichen?

Neulich habe ich mir eine Rede von der START-Abschlussveranstaltung 2008 angehört – die hätte genauso auch 2022 gehalten werden können. Zentral war das Thema Zugehörigkeit, der Wunsch, Gesellschaft mitgestalten zu können. Das hätte ich auch vor 20 Jahren alles so unterschrieben. Gleichzeitig haben viele Jugendliche heute ein neues Selbstverständnis. Sie sind mutiger als zu meiner Jugendzeit. Das kann man in Deutschland beobachten, aber zum Beispiel auch in Iran. Dort sind es die 15-, 16-, 17-Jährigen, die bei den Protesten vorneweg gehen und sagen: Es reicht uns, wir nehmen jetzt die Dinge selbst in die Hand anstatt darauf zu warten, dass die Erwachsenen es schon irgendwie machen werden.

Haben Sie eine Lieblingsidee, die in den Köpfen der Stipendiatinnen und Stipendiaten entstanden ist?

Im vergangenen Jahr hat ein Team eine Engagement-Map entwickelt. Deshalb können sich unsere Stipendiatinnen und Stipendiaten nun auf unserer Plattform ganz einfach darüber informieren, wo sie sich in ihrer direkten Umgebung engagieren können. Außerdem können sich dort auch Institutionen, Initiativen oder Vereine eintragen, die Unterstützerinnen und Unterstützer suchen. Eine tolle Idee, die sogar skalierbar ist.

Welche Bedingungen braucht es, um bestmöglich lernen zu können?

Viele Studien belegen, dass Menschen leistungsstärker sind, wenn sie sich in ihrer Umgebung wohlfühlen. Deshalb versuchen wir, solche Orte zu schaffen. Der zweite wichtige Punkt ist Wertschätzung. Wir brauchen das Gefühl, dass unsere Meinung wichtig ist und uns zugehört wird. Und ein dritter Punkt, den wir bei START in Zukunft noch verstärkt angehen wollen: Unsere Angebote bedürfnisorientierter zu gestalten und die Jugendlichen genau da abholen, wo sie gerade stehen.

Wenn Sie die Möglichkeit hätten, am deutschen Bildungssystem etwas zu verändern – was wäre das?

Puuh, es ist sehr schwierig, sich da eine Sache herauszupicken. Ich glaube, ich würde unser leistungsorientiertes System abschaffen. Es gilt inzwischen schon lange als überholt, dass die Schüler sich an den Lehrplan anpassen sollen und nicht umgekehrt. Trotzdem separieren wir Kinder immer noch nach Leistung in verschiedenen Schulformen. Aus meiner Sicht müssten wir uns genauer anschauen, was die Lernenden mitbringen, was sie schon können, wo sie hinwollen – und dann entscheiden, wo und wie es für sie weitergeht.

Die START-Stiftung überprüft sich und ihre Arbeit seit einigen Jahren mit einer Wirkungsmessung. Warum ist das so wichtig?

In erster Linie natürlich, um nicht irgendwann festzustellen, dass das, was wir tun, keinen Sinn macht. Durch die Wirkungsmessung gewinnen wir immer wieder wichtige Erkenntnisse – und können dann Veränderungen anstoßen und besser werden. Im vergangenen Jahr haben wir zum Beispiel festgestellt, dass sich einige Jugendliche nach Abschluss des Stipendiums in gewissen Bereichen nicht stärker eingeschätzt haben als vorher. Wir müssen also überlegen, wie wir dahin kommen, dass die Jugendlichen ihre Fähigkeiten verbessern – und zwar möglichst so, dass es ihnen auch bewusst ist.

Wie stellen Sie sich die START-Stiftung in 20 Jahren vor?

Die Antwort darauf hat mir bei einem Besuch im Deutschen Bundestag die Abgeordnete Misbah Khan in den Mund gelegt. Sie lobte unser Programm, wünschte sich aber gleichzeitig, irgendwann in einer Welt zu leben, in der es START nicht mehr brauche. Diesen Satz finde ich sehr schön. Er bedeutet nicht, dass es START dann nicht mehr gibt – aber, dass sich vieles weiterentwickelt hat und wir uns neuen Themen widmen können.

20 Jahre START –
eine kleine Geschichte in Meilensteinen

Im Jahr 2002 wurde START zunächst als Programm der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung ins Leben gerufen, die selbst 1974 von den Erben des Hertie-Kaufhaus-Inhabers Georg Karg gegründet worden war. Die Gemeinnützige Hertie-Stiftung hat zwei klar definierte Ziele: Die Hirnforschung unterstützen und ihre Ergebnisse nutzbar machen. Und die Demokratie in Deutschland stärken – zum Beispiel mit dem START-Programm.

Die Ausgründung

2007

Im Zuge der regionalen Ausweitung gründete die Gemeinnützige Hertie-Stiftung die START-Stiftung im Jahr 2007 schließlich aus: Seitdem ist die START-Stiftung gGmbH als hundertprozentige Tochter der Mutter-Stiftung rechtlich selbstständig. Seit 2002 hat START bundesweit mehr als 3.500 junge Menschen gefördert, inzwischen sind alle 16 Bundesländer an dem Programm beteiligt.

 

Am Anfang von START standen die Idee und der Wunsch, jungen Menschen mit Einwanderungsgeschichte eine Chance zu bieten, ihre Bildung zu verbessern und sie dadurch bei der Integration zu unterstützen. Damit war START viele Jahre erfolgreich.

Die Erweiterung

2015

Unter dem Eindruck der stark steigenden Anzahl von Geflüchteten in Deutschland 2015 widmete START sich schließlich verstärkt neu zugewanderten Jugendlichen: Ihnen wurde der Weg in und durch die deutsche Bildungslandschaft erleichtert und ein erfolgreicher Schulabschluss ermöglicht. Dabei wurde das Programm immer stärker vom Inklusionsgedanken getragen.

Das Engagement

2018

Den gesellschaftlichen Pfaden folgend, schärfte START seinen inhaltlichen Fokus im Jahr 2018 noch einmal nach und richtete ihn langfristig aus: Jungen Menschen unterschiedlicher Herkunft, denen die Zukunft unserer Demokratie und das friedliche Zusammenleben am Herzen liegen, werden Lern- und Gestaltungsmöglichkeiten geboten, damit sie sich gewinnbringend für die Gesellschaft einsetzen. Entscheidend für die Förderung – und für die Wirkung – ist seitdem nicht mehr primär das Woher, sondern das Wohin.

Die Zukunft

2022

Und wo geht die Reise hin? Um das Engagement noch gezielter zu fördern und mittelfristig noch mehr junge Menschen zu erreichen, investiert START in digitale Tools zur überregionalen und jahrgangsübergreifenden Vernetzung sowie zur gemeinsamen Projektarbeit. Teilhabe ist ein wichtiges Gut bei START. Daher werden zukünftig verstärkt die Alumni und Alumnae eingeladen, bei der Ausgestaltung des Bildungs- und Engagementprogramms für die Stipendiatinnen und Stipendiaten zu unterstützen. Denn sie wissen am besten, was Jugendliche mit internationaler Familiengeschichte brauchen, um unsere Gesellschaft in die Zukunft zu führen.